Dazwischen

Ich war der Junge dazwischen.
Ich war das dritte Kind, zwischen Bruder Schwester.
Ich war der Junge, der sich mit seinem Bruder geprügelt und mit seiner Schwester Barbie gespielt hat. Ich war der Junge, der das pinke Kleid tragen und trotzdem mit den anderen Jungs Cowboy spielen wollte.
Aber das war zu anders. Zu komisch und überhaupt „Du bist doch ein Junge!“
Ich war der Junge, der in der Schule nicht still sitzen konnte.
Der Junge, der keinen Satz zuende lesen konnte, weil sein Kopf den gesamten Raum gelesen hat. Rational, emotional, eine kippende Stimmung konnte ich vorhersagen, jedes mal.
Ich war der Junge, der das wahrscheinlich von Zuhause kannte, weil da waren auch immer mal Gewitterwolken im Wohnzimmer und Stürme hinter verschlossenen Türen.
Wo es zuhause knallt hören Kinder auf Kinder zu sein und sie werden emotionale Thermometer.
Ich war der Junge, der so immer Ausschau nach dem nächsten Gewitter gehalten hat. Der Junge, den man deshalb ein Sensibelchen nannte gefolgt von „Stell dich nicht so an!“ Aber ich spürte weiter viel zu viel, wurde nur besser darin es für mich zu behalten. Den Schmerz in Gedichten loszuwerden oder daraus gekritzelte Monstern zu gestalten.
Ich war der Junge, der sich in Geschichten verliebt hat.
Der Junge, der schon mit 6 die FSK12 Filme gesehen hat und mit 12 die FSK16 Filme. Nein ich halt mir nicht die Augen zu. Große Geschwister sind einfach das Tor zur Welt. Ich entscheide einfach, dass mir Scream und die Blutfontäne da gefällt.
Ich war der Junge, der sich Hetero Pornos angesehen hat mit der Frage, warum ich mit der Hauptdarstellerin nicht ins Bett, sondern bloß einen Kaffee trinken gehen will.
Ich war der Junge, der auf dem Schulweg gelernt hat wie man männlich läuft, breite Schultern und irgenwie hin und herwackeln wie ein Piratenschiff – keine Ahnung egal. Ich krieg das in Griff.
Ich war der Junge, der zu schnell erwachsen werden musste und zu langsam gelernt hat, dass er okay ist wie er ist.
Die Ampel war rot, aber sie dachte wohl, dass sie es noch schafft. Es hat gekracht. Ich war der Junge, der erfuhr das er eine Freundin der Familie durch einen Autounfall verloren hat – sie war erst 8.
Ich war auch der Junge, der gemerkt hat, so früh denkt man doch als Mensch nicht an den Tod.
Als Kind auf der Beerdigung eines anderen Kindes zu sein, sah wahrscheinlich traurig aus, aber ich konnte nicht anders als bloß noch lebendiger zu sein. Die Vergänglichkeit so plakativ in die eigene Biografie gebrannt, begriff ich, wir sind nicht die Sanduhr, wir sind der Sand. Wir alle sind das Kind dazwischen. Wir rieseln durch die enge Lücke zwischen gestern und Morgen, können entscheiden gestern zu bedauern oder uns um die Zukunft zu sorgen oder – zu rieseln. Der Fluss zu sein, das Geschenk namens Jetzt.
Hier mit dir, der Himmel ist schon besetzt.
Lass uns also auf dem Boden bleiben, mit Cowboys weinen, im Regen tanzen, über Horrorfilme lachen, es im Gewitter und unterm Sternenhimmel treiben. Zeit ist kostbar. Ich war der Junge, der das viel zu früh hat lernen müssen. Lass uns nicht nur gegenseitig, sondern auch die Erde unter unseren Füßen küssen.
Denn wir sind getragen bis zum Schluss.
Ich bin der Junge, der das mehr denn je erinnern muss.