Schon ehrlich genug?

Ich habe die ersten 30 Jahre meines Lebens außerhalb meines Körpers verbracht, weil es zu schmerzhaft gewesen wäre, in diesem Ding anwesend zu sein. Wirklich präsent zu sein mit dem Trauma, als Kind in einer neurotypischen, heteronormativen Welt gesagt zu bekommen „Du bist uns zu viel! Pass dich an!“

Jahrzehnte lang wollte ich meinen Körper nicht spüren. Habe mich betäubt mit Sex, Drogen, Alkohol und zu einfachen Erklärung für zu komplexe Fragen. Es war einfacher, Masken zu tragen, statt sich für die eigene Wahrheit ablehnen und eben auch lieben zu lassen. Es war einfacher, die anderen mit einem Kostüm zu beeindrucken, statt meine Wunden und Narben darunter freizulegen. Es war einfacher, zu saufen und zu gröhlen wie die anderen, statt dem Schreien in mir selbst mal wirklich zuzuhören.

„Sieh mich an!“, hätte ich dann gehört. „Sieh mich an. Hör mir zu. Bitte, bitte, sag mir endlich, ob ich hier sein darf.“

Nein. Um dieser Bitte nachzukommen, hätte ich einkehren müssen. Wirklich einkehren. Nicht performativ in einem Ja-ja-ich-habe-Eckart-Tolle-auch-gelesen-Sinne, sondern ehrlich. Denn die theoretische Selbsterfahrung war zu dem Zeitpunkt längst mein neuer Vodka geworden. Eine weitere Sucht. Ein weiteres Betäubungsmittel. Zwar weniger Leberschäden, aber die gleichen Schäden am Leben. Viel über Hintergründe und Lösungsansätze lesen, statt sie wirklich mal umzusetzen, daran zu scheitern und einen neuen Versuch zu wagen.

Wann würde ich mein Kontrollzentrum aus Selbsthilfebüchern und Pesönlichkeitstests verlassen, um mich dem unvermeidbaren Lebensrisiko zu stellen? Dem Wissen, das Lebendigkeit ein chaotisches und am Ende auch tödliches Unterfangen ist? Dass ich die wichtigsten Lektion niemals in der Theorie, sondern nur im mutigen Versuch lernen würde?

Als es für mich soweit war, mich meinen Abgründen zu stellen, hatte ich eine Scheiß Angst. Hatte da unten einen verdammten Splatter Film erwartet, ein Horrorszenario mit Kettensägen-Mördern, rollenden Köpfen und Blutfontänen im Tarantino Stil. Aber am Ende?

Am Ende – ganz unten – da stand nur ein kleiner Junge. Mit sehr traurigen Augen.

Ein Junge, der zittert.

Ein Junge, der weint.

Ein Junge, der durch zusammengebissene Zähne fragt:

„Siehst du mich? Hörst du mich? Bedeute ich dir irgendetwas?“

Spoiler Alarm: Dieses Kind war natürlich ich.

Jaja, „Das innere Kind muss Heimat finden“ kennst du schon… aber wer erzählt uns von dem äußeren Erwachsenen, der selbst dann, wenn er vor diesem Kind steht, noch wegsehen will? Der gestandene Mann, der nicht zittert, nicht weint und trotzdem der ängstlichere von beiden ist. Der Typ, der den Mut finden muss, in dieses Scheißloch verdrängter Emotionen überhaupt erst abzusteigen.

Auftauchen wird von der Welt gefeiert und keiner will darüber sprechen, was nötig dafür ist. Um wirklich aufzutauchen – auch nur vor uns selbst, wie wir wirklich sind – müssen wir zunächst abtauchen. Und das nicht wie ein CIA Agent auf der Flucht, sondern wie ein Bergungsteam im Erdbebengebiet. Ja – das Bild passt.

Der Geruch von Abwasser und Benzin. Schutt und Asche so weit das Auge reicht. Vielleicht Sirenen und das leise Brökeln der Ruinen. „Da! Das ist ein Klopfen!“, brüllt dann ein Feuerwehrmann, der meiner Meinung nach tolle Oberarme haben sollte. Er zeigt auf einen riesigen Steinhafen, der mal ein tragendes Gedankengebäude war. „Klar!“, brüll ich zurück. „Das ist meine Wahrheit, all meine tiefsten Sehnsüchte. Das ist mein inneres Kind begraben unter diesem ganzen Scheiß hier.“ Dann spuke ich mein letztes bisschen Kontrollzwang aus (noch immer bemüht lässig wie in einem Actionfilm) krempel die Ärmel hoch und sag endlich sowas pathetisches wie: „Packen wir’s an.“

Welche deiner Wahrheiten ist im Laufe deines Lebens verschüttet worden? Wann ist ehrlich, denn nun ehrlich genug? Niemand kann dir das sagen. Niemand, außer dieser Jemand unter dem Trümmerhaufen. Vielleicht kannst du erstmal bloß Klopfzeichen deuten, dann irgendwann Rufe und Wortfetzen vernehmen und dann vielleicht sogar hinter der letzten Schicht ein vertrautes Gesicht wiederfinden. Mit leuchtenden Augen, aber bedeckt von Asche und Staub.

Noch ehrlicher wäre es wohl zu sagen, dass in meinem Leben wahrscheinlich nicht nur ein Trümmerhaufen liegt unter dem etwas klopft und nach mir ruft. Noch ehrlicher wäre es wohl zu sagen, dass ich nie wissen kann, ob es das jetzt gewesen ist. Noch ehrlicher wäre es wohl zu sagen, dass auch guten Menschen mal schlimme Dinge passieren. Und überhaupt: Dass wir niemals wissen, was, wann, wie passieren wird. Das Leben ist tödlich. (Als hätten wir es nicht geahnt.)

Während ich die letzten Steine aus dem Weg räume (ihr wisst schon – mit dem Feuerwehrmann), werd ich euch sagen, was ich hingegen ganz genau wissen kann: Ich fühle mich so lebendig wie nie zuvor. Hier. Knietief im Schutt meines Lebens. Mit den dreckigen Händen. Stein für Stein auf der Suche nach einer schöneren, wahrhaftigeren Version von mir. Hier fühle ich mich lebendig. Und ich kann die Erleichterung spüren, die Weite in meiner Brust, die Umarmung dieser vergessenen Anteile in mir.

Es fühlt sich in mir genau so erhebend und heilig an, wie es kitschig und affektiv in einer RTL II Doku erzählt werden würde. Mit Weichzeichner und dramatischer Musik fällt das Kind in die Arme seiner tränenüberströmten Eltern. (Keine Ahnung wie sich das in Wahrheit anfühlt. Aber so stelle ich es mir vor.) Wiedervereint mit einem vergessenen Teil in mir. Das ist heute ehrlich. Ehrlich genug.

Was ich damals, als ich mich im Außen so sehr abgelenkt und betäubt habe, hätte hören müssen?

Lass dir von niemandem einreden, was „mutig“ ist und was nicht. Denn das bestimmt nur das Gewicht, deiner eigenen Erfahrungen. Das Ausmaß deines Erdbebengebiets, die Schichten deiner Trümmerhaufen.

So ist mutig für die Einen, heute mal eine Verabredung abzusagen, zu meditieren oder ihrem Partner ein paar Sekunden länger als sonst in die Augen zu sehen. Für mich bleibt es heute nur die Rückkehr in meine Trümmerlandschaft. Schutt wegzuräumen, Wahrheiten freizuschaufeln und ganz unten vielleicht neue Grundsteine abzulegen.

Vielleicht musst du heute nicht ehrlich zu dir sein, sondern bloß ehrlich genug.

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2 Gedanken zu „Schon ehrlich genug?“

  1. Habe vor ein paar Tagen den Film „Queer“ geschaut, der in den 50er Jahren spielt, Themen Einsamkeit, Sehnsucht nach Verbindung, Alkohol, Drogen, internalisierte Homonegativität und vieles mehr. Ein Satz, der für beide Hauptfiguren und die Aussage des Films als Ganzes eine große Rolle spielt, ist:“I ‚m not queer, I am disembodied“…

  2. So gut. So traurig. So wahr. So inspirierend. Es sein zu lassen. Es zu beginnen. Mutig zu sein. Verletzlich bleiben zu dürfen. Und doch zu sein. Sein dürfen.

    Danke.

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